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"Der kulturelle Geschmack muss ein bisschen gekitzelt werden."
Interview mit Phillip Boa

by v3rsus (December 2008)


v3rsus: Du lebst in Deutschland und Malta, und verbringst hin und wieder auch mal Zeit in den USA. Wie siehst du die momentane politische und wirtschaftliche Situation, und wie empfindest du die Stimmung der Leute in Europa und den USA? Aktuell ist ja gerade die Autoindustrie von der Krise erfasst.

Boa: Detroit erinnert mich irgendwie an das Ruhrgebiet. Dort ist ja auch eine Menge Industrie einfach weggewischt worden, und es wurde immer sehr kurzfristig gedacht, wenn ich an die Stahlindustrie denke. Da gibt es ganze Geisterstadtteile, und die Leute sind desillusioniert. Ich vermute, dass das in Amerika ein Zustand ist, der so seit langem nicht eingetreten ist: dass die Leute keine Arbeitsplätze mehr haben. Meine Schwester lebt schon lange in Amerika, hat nichts richtiges gelernt und findet immer einen Job. Diese neugelernte Arbeitslosigkeit, diese Erfahrung, verwirrt die Leute irgendwie schon. Wir sind das ja hier eigentlich gewohnt: eine Arbeitslosenquote von 4 bis 5 Prozent, und auch hoehere zwischen 10 und 20.

v3rsus: Dadurch dass deine Schwester früh ausgewandert ist hast du ja schon seit langem eine gewisse Nähe zu den USA. Hast du in den letzten 20 Jahren gemerkt, dass die Armutsschere in Amerika extremer auseinandergegangen ist?

Boa: Ja, das bekomme ich mit, und das kritisiert man ja auch allgemein an Amerika. Nur dieser ganze Anti-Amerikanismus, der war ja hier schon immer ein bisschen schick. Ich hatte viele Gelegenheiten Amerika kennenzulernen, und ich sehe das nicht so negativ. Hier schiebt man immer alles auf Amerika. Besonders die Linke, zu der ich ja etwas gehöre, aber gemäßigt und realistischer, schiebt alle Standardvorverurteilungen Amerika zu, und im Prinzip sind hier in Deutschland die Situationen exakt genauso. Die Schere zwischen Arm und Reich wird hier auch größer. Ich würde sogar sagen, dass das in der letzten halben Dekade auf jeden Fall sehr negativ durchschlägt. Das sind globalisierte Phänomene. Die Deutschen zeigen immer sehr gerne mit dem Zeigefinger auf andere, aber haben es eigentlich hier auch nicht besser.

v3rsus: Deutsche Banken sind ja letztlich auch in die Krise des US-Finanzmarktes reingerutscht. Im Endeffekt operieren alle Unternehmen gleich, egal ob in Deutschland oder in Amerika.

Boa: In der Finanzwelt gibt es ja gar kein Amerika mehr. Es gibt nur noch die Welt. Da ist China involviert, Indien, Europa und die USA, wahrscheinlich immer noch als stärkste Wirtschaftsmacht. Das sind alles so komplizierte Vorgänge, dass der normale Mensch das gar nicht mehr durchschauen kann. Ich habe eigentlich immer prophezeit, dass dieses Finanzsystem irgendwann mal zusammenbricht, weil es nie Grenzen kannte.

v3rsus: The Streets kamen vor kurzem mit der Single “Everything’s Just Borrowed” raus, TV On The Radio haben mit “Dancing Choose” praktisch eine kleine Medienkritik und NIN haben mit “Year Zero” ein ganzes Album zur momentanen gesellschaftlichen und politischen Situation gemacht. Sind das denn auch Dinge die von Künstlern thematisiert werden sollten um die Leute ein bisschen aufzuwecken?

Boa: Das habe ich ja im Prinzip immer schon gemacht. Das durchzieht meine ganze Arbeit. Meine neue Single kannst du so werten, wenn du willst, aber meine Titel haben auch immer noch eine romantische Ebene. Du kannst die Lieder und Bilder so werten und interpretieren, aber ich schreibe so, dass das nicht offensichtlich ist und nicht nur politisch, und vor allen Dingen nicht verbittert oder mit dem Zeigefinger. In meinem ganzen Tun fordere ich eh immer zum absoluten Misstrauen dem System gegenüber auf. Bei mir gibt es keine Klischees. Bei mir gibt es nicht “die PDS oder Die Linke sind gut und die CSU ist ganz rechts und ist ganz schlecht und in der Mitte ist die SPD, die geht so ganz okay”. Solche Parameter sind für mich nicht existent. Ich finde das gesamte politische Parteiensystem ist absurd. In Deutschland übrigens genauso wie in Amerika. Es geht letztlich nicht um die Belange des Volkes, sondern darum dabei zu sein, um in der Elite, egal ob links oder rechts, über Lobbyismus möglichst viel für sein eigenes Wohlsein zu tun, immer unter dem Vorwand der eigenen Überzeugungen oder Ideale. Du kannst das auch als Heuchelei bezeichnen. Das ganze System ist vom Lobbyismus geprägt, und das ist parteienunabhängig oder –übergreifend. Das ist in Amerika genauso. Dann siehst du diese Obama-Geschichte mit dem korrupten Senator, und plötzlich ist Obama Jesus und wird hier verherrlicht wie früher Bono von U2. Das kann eigentlich auch nicht Stimmen. Die Bilder Stimmen alle nicht. Meinen Fans und den Lesern meines Blogs (auf boa myspace) versuche ich zu vermitteln, dass sie gar nichts glauben sollen, weder von links noch von rechts. Die sollen immer hinter die Kulissen schauen.

v3rsus: Siehst du denn ein Problem darin, dass Mainstream-Medien Leute missinformieren und immer die gleichen Geschichten wiederholen?

Boa: Medien sind ja auch korrupt. Wenn du mal die Energiepreise in Deutschland als Beispiel nimmst, so gibt es in Deutschland ein Oligopol was Energiefirmen angeht. Die Gas- und Strompreise hier sind skandalös, aber niemand geht hier auf die Straße und protestiert dagegen, obwohl wir eigentlich einen Monopolismus haben, weil sich die Unternehmen absprechen. Kein Medium greift ernsthaft diesen Monopolismus an, weil sie davon Leben. Wenn Unternehmen wie EON oder RWE ihr Anzeigenblatt bei einer einflussreichen Zeitung oder Zeitschrift streichen, dann hat diese Zeitung oder Zeitschrift ein ganz großes Problem. Heutzutage regieren die Financial Controller und nicht die Chefredakteure oder Herausgeber. So ist das auf der ganzen Welt mit allen Dingen. Das ist eine Form von Lobbyismus. Diese Energieriesen, oder auch viele andere Industrien, sind in ihrer Macht einfach unbegrenzt. Die diktieren die Politik, die eigentlich für das Volk sein sollte. Das sind auch alles alte Gedanken. Die sind nicht neu, und das weiß eigentlich auch jeder. Das ist halt immer noch so.

v3rsus: Denkst du, dass es heutzutage weniger Plattformen für Kultur und relevante Informationen gibt als vor 15 Jahren, oder denkst du, dass das Internet einen adäquaten Ausgleich schafft?

Boa: Ich denke das Internet hat die Chance kulturell gegen die einseitige Medienvorführung zu steuern, die wir erhalten. Dort existiert noch eine gewisse Freiheit das zu schreiben und auszudrücken was man möchte, was sonst immer mehr verloren geht. Das Problem ist, dass es nicht wirklich freie Köpfe gibt. Es gibt nicht wirklich Leute, die lobbyismusunabhängig sind. Die ganzen Künstler in Deutschland beispielsweise, das kenne ich ja ganz gut, sind sofort korrupt. In meinem aktuellen Blog kannst du auch lesen, was ich meine. Da ist niemand der wirklich sagt, was er denkt und seinen Output kontrolliert. Egal ob Journalisten, Maler, Autoren oder Musiker, alle lassen sich irgendwie sponsoren und finanziell unterstützen. Alle lassen sich von großen Firmen unbewusst oder bewusst etwas vorschreiben. Es gibt sehr wenige Künstler, die einfach das machen was sie wollen, weil ihre Verkäufe darunter Leiden würden. In England gibt es ein paar, die einfach machen was sie wollen, so wie Radiohead oder Mark E Smith von The Fall. In Amerika habe ich von Nine Inch Nails den Eindruck. Das sind Menschen, die sind nicht korrupt. Die glauben nicht der Rechten und nicht der Linken, genau wie ich. Die glauben erst mal an gar nichts, und dann vielleicht an das Gute im Menschen.

v3rsus: Mittlerweile gibt es ja auch gar keine komponierten Werbejingles mehr. Diese Funktion wurde komplett von Popmusik übernommen, und jede Band verkauft ihre Songs für Werbung.

Boa: Das habe ich zum Beispiel auch nie gemacht. Das ist auch eine Entwertung meiner Arbeit. Wenn du einmal da drin bist, machst du das öfter, und das korrumpiert deine künstlerische Leistung, über die Psyche und über das Unterbewusstsein.

v3rsus: Als du angefangen hast professionell Musik zu machen hat sich ja alles um die Neue Deutsche Welle gedreht.

Boa: (unterbricht) Nein, das war vor meiner Zeit.

v3rsus: Nicht lange vor deiner Zeit.

Boa: Richtig. Da war so ein Loch. Das war vielleicht mein Vorteil, oder mein Glück. Zu der Zeit gab es einfach nichts. Es war das totale Loch.

v3rsus: Du hast ja oft den Stand der Kultur kritisiert. Die Neue deutsche Welle war nicht besonders anspruchsvoll, und auch in den 90er Jahren hat Popkultur eine Tiefphase gehabt, was du auch in deinem Lied “1996” ansprichst. Hat deiner Meinung nach in den letzten 25 Jahren, seit du angefangen hast, eine Änderung stattgefunden oder war Mainstream einfach schon immer anspruchslos?

Boa: (lacht) Guter Punkt. Manchmal denke ich auch, dass der Musikgeschmack eigentlich schon immer Scheiße war. Nur das stimmt nicht ganz. Das Mediensystem in Deutschland sollte eigentlich von GEZ-Gebühren geprägt sein. Die muss jeder zahlen, der einen Fernseher oder ein Radio hat, und die finanzieren so etwas wie ARD, WDR oder NDR. Diese Sender sollten eigentlich ein sehr hohes Niveau haben, und die sollten auch sogenannte Spartensendungen haben. Aber das geht total unter. Jetzt aktuell beim Hessischen Rundfunk sind zwei noch übrig gebliebene gute Sendungen gekippt worden, und auch 1Live wird immer schlechter. Du kannst das Radio eigentlich nicht mehr anschalten, weil nur noch Charts gespielt werden, oder Schlager. Als wir 1986 mit Constrictor angefangen haben, da hat unser Label funktioniert, weil es zu der Zeit noch alles gab. In jedem Bundesland gab es Radiosender, oder auch Fernsehsender, die unsere Arbeit unterstützt haben. Dadurch konnten wir dieses Label überhaupt führen. Wir waren als Indielabel eine Zeit lang relativ groß. Wenn ich das jetzt machen würde, so ein kleines Indielabel aufmachen, das ist eine absolut hoffnungslose Angelegenheit. Du hast nirgendwo mehr die Möglichkeit, dass deine Musik überhaupt gehört wird. Wenn dann geht das überhaupt nur noch über die Printmedien, oder über Websites. Und bei den Printmedien wird es auch immer vorhersehbarer. Es sind eigentlich nur noch die Websites.

v3rsus: Denkst du, dass die Leute irgendwann mal von der TV und Konsumkultur müde werden, oder denkst du dass die Akzeptanz dafür immer gegeben sein wird?

Boa: Das wird wohl immer so sein. Der kulturelle Geschmack muss ein bisschen gekitzelt werden. Diese ganzen Soapoperas und Celebrity Shows, die auch leider MTV mittlerweile vom Musiksender zu einem doch recht dumpfen Unterhaltungssender umgestellt haben, das ist das Niveau, und darauf hat sich mittlerweile jeder eingestellt. Das ist eigentlich kein gutes Niveau. Auch die öffentlich-rechtlichen Sender haben einfach die Aufgabe mehr zu machen, und den Menschen kulturell ein bisschen mehr beizubringen, was auch Musik betrifft, als es jetzt momentan der Fall ist. Die Intendanten sehen halt nur die Einschaltquoten. Das darf man einfach nicht so machen. Dann darf man keine GEZ-Gebühren von den Leuten nehmen. Öffentlich-rechtliche Sender in Deutschland haben sogar laut Grundgesetz einen kulturellen Auftrag. Das macht es wieder politisch. Der Elite von links bis rechts ist es halt sehr recht, wenn die Menschen zufriedengestellt sind, wie eine Herde Schafe, durch diese süchtig machenden Celebrity Shows und Superstarshows. Das ist ein sehr simpler Gedanke, aber es ist halt so. Die Leute sitzen davor, haben schon genug Sorgen, und beruhigen sich so damit. Aber das kann auch nicht alles sein.

v3rsus: Denkst du es gibt noch einen Bedarf für die Musikindustrie?

Boa: Natürlich. Der Tod der CD, wie er von vielen Journalisten praktisch nahezu gewünscht wird, wäre dann wirklich der Tod aller Künstler. Gott sei Dank funktioniert das immer noch sehr sehr gut. Bei Alben ist der Downloadanteil auf jeden Fall in Deutschland praktisch gar nicht gestiegen. Der ist immer nur bei sehr frustrierenden 4 Prozent. Von mir aus kann er gerne 10 Prozent sein, aber ich finde es schön wenn ich irgendwo einkaufen gehe und kauf mir eine CD oder ein Buch. So sehe ich die Zukunft der Musik: wie ein Buch. Unser nächstes Album wird wie eine Art Buch sein. Das ist ein bisschen aufwendiger und nennt sich Mediabook. Ein schönes Booklet mit vielen Seiten, ganz liebevoll verpackt, und man hat den Eindruck man kauft ein Buch. Das ist für mich die Zukunft der Musik. Man kann Musik ja nicht ganz sterben lassen. Wenn du allen Künstlern die Budgets wegnimmst, dann können die auch keine vernünftige Musik mehr herstellen.

v3rsus: Hat sich denn in den letzten Jahren seit der großen Krise in der Musikindustrie was geändert? Sind die Labels progressiver? Hat sich die Art Labels zu führen geändert?

Boa: Ich bin ja der Meinung, dass die Plattenfirmen sehr viel von der Zukunft reden, und dass alles digital sein wird, aber dass sie trotzdem in ihren ganzen Aktionen immer noch in den frühen Neunzigern stecken. Darüber schreibe ich auch auf meinem Blog. In England und Amerika sind sie da etwas fortgeschrittener. Es gibt auch Künstler wie Jack White, oder eben Nine Inch Nails, die halt ihre Arbeit machen, und dann wie in den Siebzigern einfach hingehen und sagen: “Hier Plattenlabel, bring das jetzt raus. Ich will das in zwei Wochen in den Geschäften sehen.” Das ist die Zukunft. Zum Schluss war ja die Herstellung einer Platte billiger als das Marketing. Die Videos kosteten teilweise mehr Geld als die ganze Produktion des Albums, und das Marketing hat das ganze noch mal getoppt. Das finde ich absurd. Wer heute immer noch zigtausend Euros in Videos steckt, oder 500 Tausend Euro in Marketing, das ist neunziger Jahre. Das ist absolut altes Denken.

v3rsus: Wo stehst du momentan und worum kreisen die Themen auf deinem aktuellen Album?

Boa: Das kann ich dir so nicht direkt sagen. Das sind halt Geschichten, wie ich sie sehe. Das neue Album klingt wie ein Soundtrack. Es hat der Drummer mitgespielt, den ich immer schon haben wollte, Jaki Liebezeit von Can. Mit dem wollte ich seit über 20 Jahren arbeiten. Jetzt hat das endlich geklappt, und er lässt unheimlich viel Platz für die Songs an sich, für die Melodien und für die Sounds. Ich bin davon überzeugt, dass die Songs atmen und eine Menge Raum haben. Sie sind nicht schnell wie „Burn All The Flags“, aber es ist das was ich unbedingt machen möchte. Es gibt irgendwie eine Menge zu entdecken, so wie früher. Wenn du dir den Kopfhörer aufsetzt, kannst du eine Menge entdecken. Die Texte haben meine typischen Bilder, meine Metaphern, die halt auch letztlich schon ein bisschen Bezug zur Gesellschaft haben, und zu den aktuellen Zeiten. Du kannst das immer so sehen, wenn du willst, aber die Romantik die darin ist, die Sehnsucht, die immer in meinen Liedern ist und auch sein muss, die lässt auch andere Interpretationen offen. "Diamonds Fall" kannst du auch so sehen, dass es den Beginn der Finanzkrise symbolisiert, oder der Titel der Single „Lord Have Mercy With The 1Eyed". Das sind immer diese Bilder, die schon auch Zeitbezogen sind, aber sie sind nicht verbittert, und sollen es auch nicht sein. Manchmal sind sie ein bisschen sarkastisch und fast ironisch, aber das ganze hat immer einen romantischen Mantel.

v3rsus: Denkst du das Internet bietet die Chance für eine Gegenbewegung?

Boa: Es gibt eine Gegenbewegung. Die ganze Indiemusik, wenn sie von Herzen kommt, ist eine Gegenbewegung. Die ganze abstrakte Kunst.

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